Früherkennung von Lernstörungen
Interview mit Dr. phil. Noemi Gloor

Lernschwierigkeiten wie Dyskalkulie und Dyslexie werden häufig erst während der Primarschulzeit oder später diagnostiziert oder bleiben gar unbemerkt – dabei können erste Hinweise bereits vor dem Eintritt in die erste Klasse beobachtet werden. Eine frühe Identifikation spezifischer Risikofaktoren eröffnet wertvolle Möglichkeiten der Prävention und gezielten Förderung.
Im Gespräch mit Dr. phil. Noemi Gloor, die ein neues Instrument zur Früherkennung von numerischen Schwierigkeiten in der frühen Kindheit entwickelt hat, beleuchten wir aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse und die Besonderheiten des neuen Verfahrens.
1. Sie haben ein Instrument zur Früherkennung von Dyskalkulie im Kindergarten entwickelt. Weshalb haben Sie hier einen Bedarf gesehen?
Studien zeigen, dass frühe numerische Kompetenzen bereits eine starke Aussagekraft hinsichtlich späterer Mathematikleistungen besitzen. Vor diesem Hintergrund wurde deutlich, dass eine frühe Erkennung dieser Kompetenzen zentral ist.
Während es im deutschsprachigen Raum bereits einzelne Verfahren gibt, handelt es sich dabei meist um zeitaufwendige Einzeltestungen. Daher entstand die Idee, ein ökonomisches Screening-Verfahren zu entwickeln – das bereits vor dem letzten Kindergartenjahr einsetzbar ist und auch in Kleingruppen durchgeführt werden kann. Unser Instrument hat den Vorteil, dass es deutlich früher ansetzt, als andere etablierte Tools und bereits ab dem ersten Kindergartenjahr angewendet werden kann. Unser Screening wurde in der Schweiz und in Deutschland normiert und ist somit für diese Länder gut einsetzbar.
2. Können Sie uns einen Überblick darüber geben, wie das Instrument funktioniert und welche Kompetenzen es erfasst?
Im Entwicklungsprozess wurde rasch klar, dass sich nicht alle Aufgaben sinnvoll im Gruppensetting umsetzen lassen. Deshalb haben wir unser Instrument aufgeteilt: Es umfasst insgesamt sieben Aufgabenbereiche. Die ersten vier Aufgaben umfassen Objekte zählen, Zählen, Zahlzerlegung und Zahlsymbole lesen. Sie erfordern eine mündliche Rückmeldung und werden im Einzelsetting durchgeführt – das dauert pro Kind etwa 5–10 Minuten. In den übrigen drei Aufgaben geht es darum Zahlsymbole zu vergleichen, Zahlsymbole einer Menge zuzuordnen und einfache Rechnungen mit Bildern durchzuführen. Diese werden in Kleingruppen mit drei bis fünf Kindern durchgeführt. Dieser Gruppenteil ist herausfordernder, etwa durch Wartezeiten oder mögliche Ablenkungen. Unsere Erfahrung zeigt jedoch, dass eine Durchführung gut möglich ist und die Aufgaben passend für die Altersgruppe gestaltet wurden. Die Kinder arbeiten mit einem Testheft, in dem jede Aufgabe zunächst gemeinsam erklärt und durchgeführt wird. Danach bearbeiten die Kinder die Aufgaben eigenständig. Dieser Abschnitt dauert rund 10–15 Minuten.
3. Welche wissenschaftlichen Grundlagen und Forschungsergebnisse haben Sie bei der Entwicklung Ihres Instruments berücksichtigt? Gibt es spezifische Risikomarker für Dyskalkulie, die sich schon im Vorschulalter identifizieren lassen?
Wir haben uns sowohl auf theoretische Modelle als auch auf empirische Erkenntnisse gestützt. Eine zentrale Grundlage war das Entwicklungsmodell der Zahl-Grössen-Verknüpfung von Krajewski. Dieses beschreibt die mathematische Entwicklung anhand von drei Ebenen. Bei Kindern mit Schwierigkeiten im Erwerb der numerischen Kompetenzen, zeigen sich Schwierigkeiten bereits auf der untersten Ebene. Zudem zeigen zahlreiche Studien, dass frühe numerische Fähigkeiten und insbesondere symbolische Kompetenzen einen langfristigen Einfluss auf mathematische Leistungen in der Grundschule haben. Unser Instrument ist so konzipiert, dass es breitflächig einsetzbar ist – unabhängig davon, ob bereits konkrete Risikomarker vorliegen. In diesem Alter sind viele Schwierigkeiten noch nicht offensichtlich, weshalb ein niedrigschwelliges, breites Screening besonders sinnvoll ist.
4. Im Bereich der Frühdiagnostik wird häufig betont, wie wichtig die Abgrenzung zwischen entwicklungsbedingten Verzögerungen und tatsächlichen Lernstörungen ist. Wie geht Ihr Instrument mit dieser Differenzierung um?
Im Kindergartenalter kann noch nicht von einer Dyskalkulie im klinischen Sinne gesprochen werden. Deshalb sprechen wir in unserem Instrument auch bewusst nicht von Diagnosen, sondern von Kindern mit Schwierigkeiten im Erwerb numerischer Kompetenzen. Ziel ist es, Kinder mit potenziellen Risikofaktoren frühzeitig zu identifizieren. Wichtig ist dabei auch der sprachliche Aspekt: Besonders Kinder mit Deutsch als Zweitsprache benötigen in Teilen des Instruments gute sprachliche Voraussetzungen – vor allem im ersten, sprachlich geprägten Abschnitt. Im zweiten Teil können die Kinder dagegen die richtige Lösung kennzeichnen - z. B. die Grössere von zwei Zahlen umkreisen - eine mündliche Rückmeldung ist hier nicht erforderlich.
5. Wie zuverlässig ist eine Früherkennung im Vorschulalter aus heutiger Sicht und welche Vorteile hat es, hier bereits im Kindergarten anzusetzen?
Wir haben überprüft, wie gut unser Instrument zukünftige Entwicklungen vorhersagen kann. Dafür haben wir ein Rechenmodell verwendet, das Zusammenhänge zwischen verschiedenen Merkmalen analysiert. Es wurden die numerischen Kompetenzen zu verschiedenen Zeitpunkten erfasst: im ersten Kindergartenjahr, am Ende des Kindergartenjahres sowie kurz vor Schuleintritt (mithilfe eines anderen Instruments). Mit dem Modell konnten wir über die Hälfte der Unterschiede in den Rechenfähigkeiten kurz vor Schulbeginn erklären.
Zudem wurden die Sensitivität und die Spezifität angeschaut: Die Sensitivität liegt bei 32 %, was bedeutet, dass 32 % der Kinder, die kurz vor Schuleintritt ein auffälliges Testergebnis zeigten, auch im Screening ein auffälliges Ergebnis erzielen. Zudem konnten wir nachweisen, dass 93 % der Kinder, die kurz vor Schuleintritt ein unauffälliges Testergebnis zeigten, auch beim Screening ein unauffälliges Testergebnis erzielten. Insgesamt sind die Ergebnisse damit mit anderen gängigen Testverfahren vergleichbar. Unser Screening liefert zudem Förderhinweise – was eher ungewöhnlich ist, da dies normalerweise einer formellen Diagnose vorbehalten ist. Wir verstehen unser Instrument deshalb als ein "Screening plus".
Bezüglich der Förderempfehlungen können wir sagen, dass eine Studie von 2018 deutlich gezeigt hat, dass bereits eine einfache Förderung von Risikokindern im Kindergarten langfristig sehr positive Entwicklungseffekte zeigt und diesen Kindern den Schuleintritt erleichtert. Durch die frühe Förderung können sie dem Schulstoff in Mathematik besser folgen und es werden letztendlich weniger Dyskalkulie-Diagnosen gestellt, im Vergleich zu Risikokindern, die keine Förderung im Kindergarten erhielten.
Quelle : Moraske, S, Wyschkon A, Poltz N, Kohn J, Kucian K, von Aster M, Esser G (2018) Indizierte Prävention von Rechenschwächen im Vorschulalter: Effekte bis Klasse 3. Lernen und Lernstörungen, 8(3), 141-153.
6. Welche frühen Anzeichen könnten im Kindergarten darauf hinweisen, dass ein Kind möglicherweise Schwierigkeiten mit Zahlenverständnis oder Mengenrelationen hat?
Ein hilfreiches Modell zur Beurteilung ist das Entwicklungsmodell der Zahl-Grössen-Verknüpfung (ZGV-Modell) von Krajewski. Schwierigkeiten auf der ersten Ebene – etwa beim Zählen, oder dann insbesondere auch beim flexiblen Zählen (rückwärtszählen, weiterzählen ab einer bestimmten Zahl) auf der zweiten Ebene – können erste Hinweise auf spätere Probleme sein. In unserer eigenen Stichprobe zeigten sich bei leistungsschwächeren Kindern auch gravierende Schwierigkeiten auf der ersten Ebene: Einige konnten nur sehr eingeschränkt zählen und vor allem beim flexiblen Zählen zeigten sich grosse Schwierigkeiten.
7. Was würden Sie pädagogischen Fachkräften raten, die bei einem Kind erste Auffälligkeiten beobachten?
Ich empfehle, ein fundiertes Screening durchzuführen, um gezielt jene Kinder zu identifizieren, die besonderen Unterstützungsbedarf haben. Es ist wichtig, die numerischen Kompetenzen frühzeitig zu fördern.
Wichtig ist es, Lerngelegenheiten zu schaffen, in denen Kinder spielerisch mit Zahlen und Mengen in Kontakt kommen. In meiner eigenen Berufspraxis habe ich die Erfahrung gemacht, dass es hilfreich ist, bei mehreren Förderbedarfen genau hinzusehen: Welcher Bereich hat derzeit die höchste Dringlichkeit? Dort sollte man mit der Förderung ansetzen.
Erste Anzeichen für Lernstörungen im Vorschulalter

Die folgenden Anzeichen wurden von unserem Kooperationspartner LONDI übernommen.
Die LONDI Online-Plattform wurde in Deutschland entwickelt, um Informationen über Lernstörungen für verschiedene Zielgruppen bereitzustellen und um die Diagnostik und Förderung von Kindern mit Lernstörungen zu verbessern. Die Plattform richtet sich an Eltern, Lehrkräfte, Schulpsychologen, Lerntherapeuten und die Jugendhilfe.
Hier können Sie auf den Oriniginalartikel zugreifen:LONDI - Anzeichen einer Lernstörung im Vorschulalter
Frühe Anzeichen eines erhöhten Risikos für Dyslexie:
Im vorschulischen Alter werden grundlegende Fertigkeiten erworben, die für das Erlernen der Schriftsprache grundlegend sind. Hat ein Kind im Vorschulalter Schwierigkeiten in den folgenden Fertigkeiten besteht ein erhöhtes Risiko, dass ihm das Erlernen der Schriftsprache mehr Schwierigkeiten bereiten wird als anderen Kinder:
Laute:
- Nennen von Wörtern, die mit dem gleichen Laut beginnen (z. B. Apfel, Anker, Adler)
- Erkennen, ob zwei gehörte, ähnlich klingende Wörter gleich oder unterschiedlich sind (z. B. Garten und Karten)
- Verbinden von Lauten zu einem Wort (“Was für ein Wort ist M-AU-S?”)
- Wörter und Fantasiewörter nachsprechen
- Ein Wort in seine einzelnen Laute zerlegen
- Bestimmen der Position eines Lautes im Wort (Anfang, Mitte oder Ende des Wortes)
- Erkennen und Weglassen von Lauten (z. B. Baum ohne B = aum)
Erste Buchstabenkenntnis:
- Erkennen von Buchstaben
- Einem gehörten Laut den entsprechenden Buchstaben zuordnen und umgekehrt (einem Buchstaben den richtigen Laut zuordnen)
Wörter:
- Erkennen, ob zwei gehörte Wörter die gleiche Silbenzahl haben
- Reimwörter erkennen oder ein Reimwort finden
- Wörter in Silben gliedern (z. B. Tomate = To-ma-te)
Frühe Anzeichen eines erhöhten Rsiskos für Dyskalkulie:
Bei einer Rechenstörung fällt es einem Kind schwer, ein Verständnis für Mengen und Zahlen zu entwickeln. Das hindert es daran, Rechenoperationen zu verstehen und auszuführen. Auch für eine spätere Rechenstörung kann man bereits im Vorschulalter Anzeichen finden, da auch für das Rechnen zunächst der Erwerb bestimmter Fertigkeiten entscheidend ist. Ein besonderes Augenmerk sollte auf Kinder gelegt werden, die sich im Vorschulalter mit folgenden Anforderungen schwer tun:
Vergleichen von zwei Mengen: Den Kindern fällt es schwer anzugeben, welche Menge größer bzw. kleiner ist (z. B. ●●●●●● ist mehr als ●●●●●)
Zuordnen von Mengen zu Zahlen und andersherum (z. B. ●●● und 3)
Abzählen einer Anzahl von Objekten und Bestimmen der Menge (Verstehen von Zählprinzipien, insbesondere des sogenannten Kardinalitätsprinzips, das besagt, dass die zuletzt genannte Zahl beim Abzählen die Menge repräsentiert)